26.02.20 Hamburg… Für eine Stunde steht die Reise auf der Kippe – nein, nicht dass ich verschlafen hätte. Nein, ich sitze ganz ruhig mit dem Rücken angelehnt im Bus-Wartehäuschen „BAB-Auffahrt Waltershof“ und erstarre: mit dem Rücken angelehnt – wo ist denn nun mein Eastpak-Rucksack mit Laptop, Pass, Ticket, Unterlagen, Dollars und all den anderen Schreib- und Lesesachen, die ich für fünf Wochen Seereise eingesteckt hatte. Ein Adrenalinstoss nach dem anderen pfeffert das Blut ins Hirn – du bist doch gerade aus dem Bus 451 ausgestiegen, der dich zum Burchardkai Terminal bringen soll, dich aber einfach an der Haltestelle „BAB Auffahrt Waltershof“ rausschmeisst, weil dort seine Fahrt endet: Ich hatte – einziger Fahrgast ab der Fähr-station Bubendey-Ufer – ein Gespräch mit dem Fahrer begonnen, um mich rechtzeitig zum Check-in am Terminal abzusetzen und dazu meinen Rucksack abgelegt. Aber die Fahrt um 1540 endet halt dienstplanmässig am „Waltershof“, und weiter mitnehmen will er mich auch nicht. Erst der Bus 1640 fährt bis zur Endstation „Burchardkai Terminal“ – und ich Dodel lasse meinen wertvollen Rucksack im Bus in der Gewissheit zurück, der Bus kommt ja wieder – aber doch erst eine Stunde später. Das Zittern beginnt, die Stossgebete wollen nicht enden. Und doch bin ich mir gewiss: meine 75-jährige Jubiläumsreise nach Südamerika wird nicht schon nach 10 Stunden in Hamburg enden. Und so viele Rucksackdiebe wird es in Hamburg doch dank Olaf Scholz und G 20 nicht geben.
10 Tage zuvor war mir mein 100.000 BRT Container „CMA CGM Jean Gabriel“ planmässig angekündigt worden, aber Wind und Wellen im stürmischen Nordatlantik hatten nautische Manöver erfordert, um die Risiken des Transports von 6.000 Containern zu mindern, das hiess für mich: auf gepackten Koffern W A R T E N und W a r t e n und w a r t e n. Das Ticket bei Flixtrain Köln – Hamburg war für den 13.02.20 für 14,99 € schon gebucht, das Prizeotel in Hamburg für zwei Nächte reserviert, doch nichts rührte sich. Der Hafenagent hatte keine belastbaren Daten, der Vesselfinder sah meinen Kahn noch irgendwo auf dem Atlantik auf Höhe der Biscaya. Und die Häfen in Falmouth/England und Rotterdam/Niederlande waren noch nicht einmal in Sichtweite. Schliesslich vertröstete mich mein Reiseagent Arne Gudde um eine Woche auf den 22.02.2020.
Da wird aus der Not spontan eine Tugend, Gisela huckepack ins Gepäcknetz befördert, das Hotel für eine weitere Nacht gebucht – und schon sitzen wir am Valentinstag verzückt im Schoss der Elbphilharmonie und versemmeln unsere Spielgroschen für zwei Fuffziger-Tickets, die für diese Attraktion beim heimischen Rummycub angespart worden waren, und folgen der Erstaufführung einer jungen koreanischen Komponistin, die moderne Musik – insbesondere ein Klarinettenkonzert – in Klang verwandelt: unser Rang hinter den Perkussionisten lässt das Abenteuer zum Ereignis wuchern. Ein Spaziergang in die Deichtorhallen macht mich im „Jetzt“ mit der Arbeit von 50 jun-gen deutschen Künstler ab Jahrgang 1979 vertraut, deren Spiel mit den Materialien einmal mehr die Augen für die Kunst von heute öffnet. Und der Rest von Hamburg versinkt in Sturm und Regen.
Auch der 22.02.20 verscheidet, die Verwunderungen nehmen zu – kein Wort des Hafenagenten über Zeiten und Orte, alles „wetterbedingt“, kein Wort der Reiseagentur: drei Tage wettert „Jean Gabriel“ die Stürme in Rotterdam ab, ehe er sich am 25.02.20 mit der Flut in die Elbe schiebt und gegen 1800 Uhr am Burchardkai in Hamburg andockt, ohne dass jemand auch nur ein Wort über Check-in- und Abfahrtzeiten verliert. Also gebe ich gelassen kund, am 26.02.20 um 1600 am Kai-Terminal zu sein – und als niemand widerspricht, buche ich meine Zugreise vom 25.02. auf den 26.02.20 – die Stornokosten kann ich wohl in den stürmischen Wind schreiben.
10 Stunden zuvor klingelt der Wecker, der Schlupf in die seit Tagen bereiteten warmen Sachen sieht gekonnt aus, nur schaut keiner zu: Gisela hat gestern schon das Weite gesucht und sich nach Neuseeland fliegen lassen. Draussen flockt der erste Schnee des Jahres. Juffes hat seinen „Gerry“ und seinen „Skoda“ schon aufgemöbelt, um mich um 0800 durch den Schneeregen nach Sechtem zu fahren. Reisetasche mit 23 kg, Rucksack mit mehr als 9 kg und eine Umhängetasche mit den restlichen Äpfeln, Karnevals-Krapfen und Hustenbonbons geben den Schritt vor – Hamburg erwächst um 1300 im Wetter wie im April. Ein „Labskaus“ an den Landungsbrücken, dann noch die Fähre 62 nach Finkenwerder – und dann kam um 1540 Bus 451…
27.02.20 Kanal… Kaum merklich schiebt sich um 0100 der Kahn vom Kai, eskortiert von drei Schleppern, die ihn in nördliche Richtung stellen. Kein Getöse und Geklapper der vier Kräne mehr, die noch kurz zuvor die letzten Boxen an Bord hieven. Wenn ich die Hand aus meinem Fenster strecke, kann ich die vorbei schwingenden Container berühren – erstaunlich mit welcher Sicherheit die Kranführer im Drei-Minuten-Rhythmus die 40 Fuss-Boxen in die 4 Haltekrallen bugsieren – als ob da kein Gewicht hinge. Mir fallen die Augen zu – Willkommhöft passieren wir ohne Musik und „Auf Wiedersehen“: Nachtruhe ist angesagt.
Der Morgen graut, leicht schwingt der Boden der Kabine – wir sind in offenen Gewässern. 5 Stunden hat die Elbfahrt verschlungen, der Lotse ist von Bord: Glenn hat als Wachoffizier das Kommando auf der Brücke übernommen, ein Lookout steht ihm zur Seite wegen des Verkehrs auf der Wasserstrasse. Für drei Decks nehme ich die Treppe – 123…789, der Code an der Tür öffnet mir die Brücke. Kim, der zweite Wachoffizier aus der philippinischen Kadettenschule in Cebu City reicht mir einen schwarzen Kaffee aus der Maschine. Der Wind weht streng aus Nordwest, der Computer berechnet die Drift und korrigiert den Kurs automatisch – der Dienst hier oben ist lang-weilig. Alle zwanzig Minuten müssen die oow – officers on watch – das Signal drücken, um ihre Wachsamkeit anzuzeigen und einen Alarm zu verhindern.
Meine drei Mitreisenden haben sich schon am Frühstückstisch versammelt: Ian, der pensionierte Rechtsanwalt aus Manchester, Harald, der leise Norweger und passionierte Segler aus Oslo und Wolfgang, der laute Schwabe aus der Nähe von Stuttgart – sie alle reisen bis Valparaiso, Harald nimmt sogar die Rückreise mit dem Boot. Das Gespräch ist voller Leichtigkeit, auch wenn es Harald und Wolfgang schwerfällt, dem Dialog auf englisch zu folgen. So passieren Brexit, Julian Assange und die Zukunft des UK, der Rassismus und Antisemitismus in Europa – und lassen uns die Freude, dass andere das auslöffeln, was uns nicht gelungen ist. Wolfgang gesteht seine Leidenschaft zu malen. Harald bleibt leise und verschlossen. Ian hasst Johnson.
Anders als auf der „Puget“ vor fünf Jahren sitzen hier die vier Passagiere getrennt von den Offizieren in einer eigenen Abteilung – vom Captain bis zum Ingenieur sprechen sie nur serbo-kroatisch; es ist nicht die einzige kalte Schulter, die ich spüre. Der Kapitän ist noch relativ jung – ich schätze ihn als Endvierziger. Seine Körpersprache, sein Auftritt ist unangenehm eitel, von Empathie keine Spur; er stellt sich nicht einmal vor – es wird nicht seine einzige Unhöflichkeit bleiben. Die Mannschaft schätzt ihn – wie mir Glenn erzählt – nur noch deshalb, weil er beim nächsten Port in Antwerpen das Schiff nach turbulentem Zwei-Monatsdienst verlassen wird.
Ich suche nach einem Rhythmus, um den Alltag zu bewältigen: Lesen, Spielen, Spanisch lernen, Sport, Sauna – feste Daten haben nur die Essen: Frühstück um 0700, Mittag um 1200, Abend um 1800. Und zweimal am Tag ist „Brücke“ angesagt – Wasser, Wellen, Weiten: das Wetter baut sich auf und baut sich ab. Regen ist angesagt und böige Winde mit 40 kn von der Seite. Der Kahn ist nicht voll beladen, ist mehr als 10 Tage im Rückstand – London, Le Havre werden im Ablauf gestrichen, von Antwerpen geht es schnurstracks nach Cartagena. Als Glenn mich über all diese Neuigkeiten unterrichtet, mischt sich unser namenloser Captain ins Gespräch – die Nähe im Gespräch während der Navigation sei nicht erwünscht, ich solle mich an den Rand setzen.
Ich danke ihm für seine überbordende Freundlichkeit und Gastlichkeit. Um 2230 schaukelt der Kahn ein wenig – der Pilot kommt an Bord, ein Steuermann übernimmt das kleine Steuerrad, das die 40.000 PS über den rechtsdrehenden Propeller in die richtige Richtung lenkt.
Hannes Wader, Reinhard Mey und Konstantin Wecker haben im Juni 2002 zum 60. Geburtstag von Hannes Wader in Bielefeld ein Konzert gegeben – „Gut wieder hier zu sein“; gut, dass sie auf der CD bei mir sind – die alten Kampfgenossen, die mit ihren Liedern der Welt ein anderes Gesicht haben geben wollen. „Es ist an der Zeit“ – heute immer noch. Die Lieder wärmen mich – draussen herrschen garstige Winde; es pfeift und schwirrt – der Wind peitscht die Wasserlachen. Trocken und warm husche ich unter die Bettdecke.
28.02.20 Antwerpen… Stille umgibt mich, als ich gegen 0630 in dem superbreiten Kingsbett erwache, der Puls rast – seltsam, wenn ich ruhe, steigt der Blutdruck in ungewollte Höhen; bin ich atemlos am Ende der Treppe angelangt, beruhigt er sich, steige ich vom Fahrrad, mimt er normal. Die beiden Bullaugen geben den Blick frei auf die Schattenrisse der Kräne, die unter dem Namen EUROGate Antwerpen arbeiten, d.h. sie ruhen, also ruhe ich auch noch ein wenig bis die Sonne ihr gelbes Morgenlicht in meine Kabine 701 wirft. It‘s coffeetime – 0730. Harald, Wolfgang und Ian sitzen schon am Tisch und geben dem Morgen erzählerische Frische. Jo, der philippinische Mess-man, der die beiden Messen bedient, stolpert über meine Order „two eggs overeasy, and bacon“ – es gibt halt immer nur Spiegelei und krosse Schinkenteile, Kantinenfrühstück – dazu dann Plastiktoast, ein paar weiche Baguettescheiben, dazu immer dieselbe billige Käse- und Wurstsorte. Ich belasse es bei einem Müsli mit Joghurt und Meli. Der Kapitän ist immer noch an Bord und müht sich um ein Lächeln, bringt aber sonst kein freundliches Wort über die Lippen.
Er gibt jene kalte Atmosfäre vor, die ich auf diesem Schiff im Unterschied zur „Puget“ vorfinde – kein Mensch nutzt die Messe, weder auf Seiten der Offiziere, noch auf Seiten der Mannschaft. Unser kleiner Vierertrupp lebt nicht nur am Tisch isoliert – auf Deck F, wo unsere Kabinen sich befinden, ist eine eigene „Messe“ für uns eingerichtet – ein Tisch, zwei Stühle, Sofa und Sofatisch sowie eine Spüle, auf der ein Warmwasserkocher für den Pulverkaffee und den Beuteltee bereit steht. IKEA – Atmosfäre. Ein Fernseher sieht alle Funktionen „Musik, Text, Film, TV“ vor, aber nichts bewegt sich nach dem Powerdruck, keine Musik, kein Film – nicht einmal eine CD. So bleibt uns hier nur der Kaffee nach dem Essen.
0900 schaue ich in die „Geschichte des politischen Denkens“ und vergewissere mich über „Politeia“ und „Dämos“ bei Aristoteles, der die Herrschaft des Volkes „Demokratie“ für eine ungeratene chaotische Staatsform hält und den Verfassungsstaat der „Politik“ mit ihren Oligarchen und Kundigen bevorzugt. Spannend seine Wiederbelebung in der Scholastik und in der Moderne bei Hegel, Kant und Hobbes. Um 1000 lege ich die erste Diskette von „Carmen“ ein, um mir die tonalen Grundzüge des Spanischen wieder in Erinnerung und die Worte wieder auf zu rufen. Durch das nachahmende Sprechen laufen die Sätze schon ganz gut: Que tal ? Manchmal läuft mir noch die italienische Variante über die Zunge, aber Carmen belehrt mich eines Besseren. Dann schlägt mich um 1100 Rutger Bregman mit seinen Visionen seiner 15-Stunden-Woche ebenso in den Bann wie sein Vorschlag „Geld für die Armen“ (bedingungsloses universelles Grundeinkommen).
Kaum dass ich mich in dem Direktoren-Schreibtischstuhl zurecht geräkelt habe, drängen die Stimmen der anderen schon wieder zum Essen – eine wässrige Bohnensuppe, ein trockener Thunfisch mit geschmorten Möhren dazu zwei Scheiben Melone; allein den frischen Salat möbele ich mit Feta und Käseresten, Balsamico und einem Schuss Olivenöl zum „griechischen Bauern-salat“ auf. Uns fällt auf, dass nun schon seit zwölf Stunden nach unserer nächtlichen Ankunft niemand den Finger an den Kränen zum Laden rührt. Wahrscheinlich ist das die Strafe für das unzeitgemässe verspätete Eintreffen im Hafen – Maersk und MSC werden aber auch nicht bedient.
Die Brücke verwaist – ich nutze den Mittagsschlaf, ehe ich mich um 1500 wieder in den Bregmann vergrabe, klingt alles so vernünftig und machbar – aber wer gibt sich heute noch mit Visionen ab ?
„Und wenn wir Visionen haben, gehen wir halt zum Arzt – und erzählen ihm davon“, sagt Kevin.
1600 – es regnet in Strömen, nein, es klatscht an die Fenster. Ich habe mich umgezogen – im Sport-raum treffe ich auf Ian, der seinen Walk auf dem Band macht. Durch die dünnen Wände rattern nun die Kräne und kratzen die Boxen beim Ablassen; endlich beginnt die Abfertigung, die noch bis morgen Mittag dauern wird. Ich setze mich zum Aufwärmen aufs Fahrrad – Glenn hat vergessen, die Sauna einzuheizen. Also frage ich einen Mannschaftsgrad, der mir gerne hilft, den Laden selbst einzuheizen. 15, 20 Minuten – dann hat es gerade mal 37 ° C. Ich steige ein und geniesse die Wärme in dem chinesisch gehaltenen Ambiente, die über 30 Minuten schon die 42 ° C Marke erreicht. Abkühlung unter der Dusche, ein wenig Erholung im Sportraum, der wohl nicht allzu viel Lust zu wecken scheint – dann hinein in den zweiten Schweissaufguss von 30 Minuten und ab unter die Dusche. Wenig einladend, aber praktisch, um ein körperliches Gegengewicht zum Essen zu finden – der Koch verwöhnt uns heute Abend mit einem Gulasch, dem man alternativ Reis oder Rigatoni beigeben kann, aber dem fehlt einfach der Pfeffer: mein griechischer Bauernsalat findet bereits Nachahmer am Tisch – er ist und bleibt mein Favorit. Unsere Gespräche nehmen Fahrt auf. Wir sind immer die Letzten, wenn wir nach 1900 Uhr uns erheben, um uns noch einen Kaffee aus der Puderdose zu gönnen, ehe sich der Erste schon wieder verabschiedet; alle schreiben Tagebuch – ich lasse Konrad Wecker und Hannes Wader wieder mein Herz bluten: „Gute Nacht, Freunde“
Morgen ist ein neuer Tag – 12 Tage ununterbrochen Atlantik, Winterstürme sind angesagt.
29.02.20 Leinen los… Die belgischen Hafenarbeiter sind noch gut organisiert. Vor 0700 bewegt sich hier kein Kran. Statt dem Klang der Kräne lausche ich dem letzten Regen der Nacht, der gegen die Fenster plästert. Ein Morgenlächeln erwartet mich am Frühstückstisch – für ein Foto: Wolfgang lacht immer ein wenig zu laut über seinen schwäbischen Schalk. Und das Programm für heute: Water, winds and waves!
Heute lerne ich wieder über Cicero „De res publica“ – er verbindet griechischen Geist mit römischer Ordnung: Staat definiert sich immer über das Gemeinwohl – wenn ich das doch meiner Angela Merkel vermitteln könnte: Unsere Welt wäre ein wenig friedlicher, die Gesellschaft nicht so tief zerrissen. Und Bregmann gibt anschliessend sich der Illusion hin, gegen die Widerstände von Wirtschaft und ihren Vasallen in der Politik eine „15-Stunden-Woche“ einzuführen. Welch ein Sinn – der Computer macht die Arbeit des Menschen überflüssig, der Roboter mit seiner künstlichen Intelligenz überwacht die Computer: und was macht der Mensch ? Immer weniger arbeiten immer mehr, immer mehr leben immer prekärer – und niemand (entschuldige: wenige) nimmt Notiz. Statt zu teilen und die Höchst-, Wochen- und Lebensarbeitszeit zu reduzieren und die verbliebenen Arbeiten auf mehr Schultern zu verteilen, wird das Renteneintrittsalter immer weiter nach oben verschoben, obwohl ersichtlich über 50-Jährige wenig Chancen mehr haben, sich erneut in Arbeit zu verdingen: Kapitalismus und Kommunismus haben sich gleichermassen in die Idee verrannt, den Erfolg nach dem Mass der Erwerbsarbeit und dem BIP zu vermessen. Das Bruttoinlandsprodukt misst alles ausser dem, was Menschen wertvoll ist: Zeit, Musse, Kinder…Und den Menschen, die keine Arbeit mehr finden mit einem bedingungslosen Einkommen ein Leben in Würde zu ermög-lichen, dafür finden sich auch immer mehr Gegner als Freunde: Leistung muss sich doch lohnen, auch wenn die Reichen überwiegend ihr Vermögen leistungslos über ihr Kapital angehäuft haben. Und „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (wer‘s nicht glaubt: Originalton Franz Müntefering, aus der Bibel entlehnt; und im Vertrauen – der Mann war in der SPD ein grosses Tier).
Die grauen Morgenstunden vergehen wie im Flug. Mittags krönt sich das Schweinekotelett mit einer Ananas. Der neue Kapitän aus Rijeka ist da, geht achtlos an uns vorbei. Ich mache mich auf, ihn zu bitten, sich doch den Passagieren vorzustellen. Und wirklich, er gibt sich ein paar Minuten Zeit, wir stellen uns vor und er berichtet – über die Ordnung an Bord, die er – unter uns – gerne auf dem Papier stehen lässt, wir sind schliesslich erwachsen genug, um die Crew nicht bei der Arbeit zu stören, wenn‘s angezeigt ist. Statt 1300 sieht er uns erst um 1530 abfahren.
1530 – ich sitze einsam auf der Steuerbordseite im Lotsensitz, aber weder Lotse, noch sonst jemand ist auf der Brücke. Im Funk vernehme ich, dass die Lotsen knapp sind und eine Abfahrt erst gegen 1900 bestätigt werden kann. Das gibt Gelegenheit, noch ein paar WhatsApp abzusetzen, die HDS sogar veranlassen, noch mal schnell anzurufen – ein treuer Geselle. Ich schlafe ein wenig vor, um am Abend fit zu sein für die Ausfahrt aus der Schelde und schleppe mich verschlafen zu dem immer wieder gleichen Essen – ein Hähnchenfilet à la Milanese verwärmt auf der Anrichte, der Blumen-kohl ist gar nicht erst angerichtet, sondern liegt gekocht und zerrupft auf dem Blech, dürftig ab-gedeckt mit einer Alufolie, die Bratkartoffel hätten sich über ein paar kross gebratene Zwiebel oder Schinkenwürfel sicher gefreut – die Küche ist – gemessen an der „Puget“ – bislang eine einzige Enttäuschung. Noch ehe ich den süssen Nachtisch konsumiert habe, bewegt sich das Schiff, alle springen auf: Endlich geht‘s los.
Mein Platz ist auf der Brücke, wo der Lotse schon seine Kommandos an den Steuermann gibt: „port 10“ oder „3-5-5“, der dies artig wiederholt und bestätigt, wenn „midship“ anliegt: was eine gute Segelschule alles ausmacht: Die Lichter der Wasserstrasse weisen den Weg in die See. Auswärts ist backbord „grün“, steuerbord „rot“. Sie funkeln in unterschiedlichen Intervallen, die auf der Seekarte vermerkt sind, so dass ich jederzeit den Standort des Schiffes auf der Seekarte erkennen kann, der auf dem Radarschirm ohnehin durch einen Kreis markiert ist. Die ersten stürmischen Winde pfeifen uns um die Ohren, die Daten zeigen 8 – 9 Bf (Beaufort) an. Gemächlich schieben sich andere Ozeanriesen an uns vorbei in Richtung Hafen, erkennbar nur an zwei Toplichtern und einem roten Seitenlicht, weil in der Wasserstrasse Rechtsverkehr vorgegeben ist.
Zwischen den Wolken reisst es gelegentlich auf, dann zeigt sich der zunehmende Mond mit seiner Sichel und verleiht dem wilden Wasser milden Schein – der Orion steht kurz über‘m Horizont und der Kurs wird immer westlicher „2-6-0“. Nach drei Stunden kommt Bewegung in die dunkel gehal-tene Brücke, das Lotsenschiff gibt Lichtzeichen, die langsame Fahrt wird nochmals gedrosselt – ein behutsames „Good bye“ und der Pilot geht von Bord, was der Wachmann an der Leiter vermeldet.
„Jean Gabriel“ nimmt Fahrt auf, die Lichter an Land verblassen, der 3. Offizier übernimmt die Wache. Mit einem „Good night“ verlasse ich als Seemann die Brücke: In internationalen Gewässern hätte ich mit meinem Seeschein die Erlaubnis, auch einen solchen Kahn zu schippern – aber das ist eine andere Geschichte.